Zielgruppealle Altersstufen
Material
  • Text zum Vorlesen
  • für jede*n ein kleines Stück aus einem flauschigen Flokatiteppich, Kunstfell o.ä.
  • am besten eine gemütliche Atmosphäre

Die kleinen Leute von Swabedoo

Vor langer, langer Zeit lebten kleine Leute auf der Erde. Die meisten von ihnen wohnten im Dorf Swabedoo und nannten sich Swabedoodahs. Sie waren sehr glücklich, liefen herum mit einem Lächeln bis hinter die Ohren und grüßten jedermann.
Was die Swabedoodahs am meisten liebten war, einander warme, weiche Fellchen zu schenken. Alle von ihnen trugen über der Schulter einen Beutel, und der Beutel war angefüllt mit weichen Fellchen. So oft sich Swabedoodahs trafen, gaben sie sich gegenseitig ein Fellchen. Es ist sehr schön, jemandem ein warmes, weiches Fellchen zu schenken. Es sagt dem anderen, dass er etwas besonderes ist, es ist eine Art zu sagen „Ich mag Dich!“.
Und ebenso schön ist es, von einem anderen ein solches Fellchen zu bekommen. Du spürst, wie warm und flaumig es an deinem Gesicht ist, und es ist ein wundervolles Gefühl, wenn du es sanft und leicht zu den anderen in deinen Beutel legst. Du fühlst dich anerkannt und geliebt, wenn jemand dir ein Fellchen schenkt und du möchtest auch gleich etwas Gutes, Schönes tun. Die kleinen Leute von Swabedoo gaben und bekamen gerne weiche, warme Fellchen, und ihr gemeinsames Leben war ganz ohne Zweifel sehr glücklich und fröhlich.

Außerhalb des Dorfes, in einer kalten, dunklen Höhle, wohnte ein großer, grüner Kobold. Eigentlich wollte er gar nicht alleine dort draußen wohnen, und manchmal war er sehr einsam. Er hatte schon einige Male am Rande des Dorfes gestanden und sich gewünscht, er könnte dort mitten unter den fröhlichen Swabedoodahs sein – aber er hatte nichts, was er hätte dazu tun können – und das Austauschen von warmen, weichen Fellchen hielt er für einen großen Unsinn. Traf er einmal am Waldrand einen der kleinen Leute, dann knurrte er nur etwas Unverständliches und lief schnell wieder zurück in seine feuchte, dunkle Höhle.

An einem Abend, als der große, grüne Kobold wieder einmal am Waldrand stand, begegnete ihm ein freundlicher kleiner Swabedoodah. „Ist heute nicht ein schöner Tag?“ fragte der Kleine lächelnd. Der grüne Kobold zog nur ein grämliches Gesicht und gab keine Antwort. „Hier, nimm ein warmes, weiches Fellchen“, sagte der Kleine, „hier ist ein besonders schönes. Sicher ist es für dich bestimmt, sonst hätte ich es schon lange verschenkt.“ Aber der Kobold nahm das Fellchen nicht. Er sah sich nach allen Seiten um, um sich zu vergewissern, dass auch niemand ihnen zusah oder zuhörte, dann beugte er sich zu dem Kleinen herunter und flüsterte ihm ins Ohr: „Du, hör mal, sei nur nicht zu großzügig mit deinen Fellchen. Weißt du denn nicht, dass du eines Tages kein einziges Fellchen mehr besitzt, wenn du sie immer so einfach an jeden, der dir über den Weg läuft, verschenkst?“ Erstaunt und ein wenig hilflos blickte der kleine Swabedoodah zu dem Kobold hoch. Der hatte inzwischen den Beutel von der Schulter des Kleinen genommen und geöffnet. Er klang richtig befriedigt, als er sagt. „Hab ich es nicht gesagt! Kaum mehr als 217 Fellchen hast du in deinem Beutel. Also, wenn ich du wäre: Ich würde vorsichtig mit dem Verschenken sein.“ Damit tappte der Kobold auf seinen großen, grünen Füßen davon und ließ einen verwirrten und unglücklichen Swabedoodah am Waldrand zurück. Er war so verwirrt, so unglücklich, dass er gar nicht darüber nachdachte, dass das, was ihm der Kobold erzählte, überhaupt nicht sein konnte. Denn alle Swabedoodahs besaßen einen unerschöpflichen Vorrat an Fellchen. Verschenkten sie ein Fellchen, so bekamen sie sofort von jemand anderen ein Fellchen, und dies geschah immer und immer wieder, ein ganzes Leben lang.  Wie sollten dabei die Fellchen ausgehen?
Auch der Kobold wusste das – doch er verließ sich auf die Gutgläubigkeit der kleinen Leute. Und noch auf etwas anderes verließ er sich, etwas, was er an sich selbst entdeckt hatte, und von dem er wissen wollte, ob es auch in den kleinen Swabedoodahs steckte. So belog er den kleinen Swabedoodah ganz bewusst, setzte sich an den Eingang seiner Höhle und wartete.

Vor seinem Haus in Swabedoo saß der kleine, verwirrte Swabedoodah und grübelte vor sich hin. Nicht lange, so kam ein gute Bekannte vorbei, mit der er schon viele warme, weiche Fellchen ausgetauscht hatte. „Wie schön ist dieser Tag!“ rief die Freundin, griff in ihren Beutel und gab dem Anderen ein Fellchen. Doch dieser nahm es nicht freudig entgegen, sondern wehrte mit den Händen ab. „Nein, nein! Behalte es lieber“, rief der Kleine, „wer weiß, wie schnell sonst dein Vorrat abnimmt. Eines Tages stehst du ohne Fellchen da.“ Die Freundin verstand ihn nicht, zuckte nur mit den Schultern, packte das Fellchen in ihren Beutel und ging mit leisem Gruß davon. Aber sie nahm verwirrte Gedanken mit, und am gleichen Abend konnte man im Dorf noch dreimal hören, wie Swabedoodahs zu einander sagten: „Es tut mir leid, aber ich habe kein warmes, weiches Fellchen für dich. Ich muss darauf achten, dass sie mir nicht ausgehen.“
Am kommenden Tag hatte sich dies alles im ganzen Dorf ausgebreitet. Jedermann begann, seine Fellchen aufzuheben. Man verschenkte zwar immer noch ab und zu eines, aber man tat es erst nach langer, gründlicher Überlegung und sehr, sehr vorsichtig. Dann waren es zumeist nicht die ganz besonders schönen Fellchen, sondern die mit kleinen Stellen und schon etwas abgenutzt.

Die kleinen Swabedoodahs wurden misstrauisch. Man begann, sich argwöhnisch zu beobachten, man dachte darüber nach, ob andere wirklich ein Fellchen wert waren. Manche trieben es so weit, dass sie ihre Fellbeutel nachts unter den Betten versteckten. Streitigkeiten brachen darüber aus, wieviele Fellchen der oder die besaß. Und schließlich begannen die Leute, warme, weiche Fellchen gegen Sachen einzutauschen, anstatt sie einfach zu verschenken. Der Bürgermeister von Swabedoo machte sogar eine Erhebung, wieviele Fellchen insgesamt vorhanden waren. Er ließ dann mitteilen, dass die Anzahl begrenzt sei, und rief die Fellchen als Tauschmittel aus. Bald stritten sich die kleinen Leute darüber, wieviele Fellchen eine Übernachtung oder eine Mahlzeit im Hause eines Anderen wert sein müsste. Wirklich, es gab sogar einige Fälle von Fellchenraub! An dämmrigen Abenden fühlte man sich draußen nicht mehr sicher, an Abenden, an denen die Swabedoodahs gern in den Park oder auf den Straßen Spazieren gegangen waren, um einander zu grüßen, um sich warme, weiche Fellchen zu schenken.
Oben am Waldrand saß der große, grüne Kobold, beobachtete alles und rieb sich die Hände.

[ geeignete Stelle für eine Vorlesepause ]

Das Schlimmste von allem geschah ein wenig später. An der Gesundheit der kleinen Leute begann sich etwas zu verändern. Viele beklagten sich über Schmerzen in den Schultern und im Rücken, und mit der Zeit befiel immer mehr Swabedoodahs eine Krankheit, die Rückgraterweichung genannt wird. Die kleinen Leute liefen gebückt und in schweren Fällen bis zum Boden geneigt umher. Die Fellbeutelchen schleiften auf der Erde. Viele fingen an zu glauben, dass die Ursache ihrer Krankheit das Gewicht der Beutel sei und dass es besser wäre, sie im Hause zu lassen und dort einzuschließen. Es dauerte nicht lange und man konnte kaum noch Swabedoodahs mit einem Fellbeutel antreffen.
Der große, grüne Kobold war mit dem Ergebnis seiner Lüge sehr zufrieden. Er hatte herausfinden wollen, ob die kleinen Leute auch so handeln und fühlen wie er selbst, wenn er, wie es fast immer der Fall war, selbstsüchtige Gedanken hatte. Sie hatten so gehandelt! Und der Kobold fühlte sich sehr erfolgreich.
Er kam jetzt häufiger in das Dorf der kleinen Leute. Aber niemand grüßte ihn mit einem Lächeln, niemand bot ihm ein Fellchen an. Stattdessen wurde er misstrauisch angestarrt, genau so, wie sich die kleinen Leute untereinander anblickten. Dem Kobold gefiel das gut. Für ihn bedeutete dieses Verhalten die „wirkliche Welt“!

In Swabedoo ereigneten sich mit der Zeit immer schlimmere Dinge. Vielleicht wegen der Rückgraterweichung, vielleicht aber auch deshalb, weil ihnen niemand mehr ein warmes, weiches Fellchen gab. Wer weiß es genau? Einige Leute starben in Swabedoo. Nun war alles Glück aus dem Dorf verschwunden. Die Trauer war groß.

Als der große, grüne Kobold davon hörte, war er richtig erschrocken. „Das wollte ich nicht“, sagte er zu sich selbst, „das wollte ich bestimmt nicht. Ich wollte ihnen doch nur zeigen, wie die Welt wirklich ist. Aber ich habe ihnen doch nicht den Tod gewünscht.“ Er überlegte, was man nun machen könnte, und es fiel ihm auch etwas ein.
Tief in seiner Höhle hatte der Kobold eine Miene mit kaltem, stacheligen Gestein entdeckt. Er hatte viele Jahre damit verbracht, die stacheligen Steine aus dem Berg zu graben und sie in einer Grube einzulagern. Er liebte dieses Gestein, weil es so schön kalt war und so angenehm prickelte, wenn er es anfasste. Aber nicht nur das: er liebte diese Steine auch deshalb, weil sie alle ihm gehörten und immer, wenn er davor saß und sie ansah, was das Bewusstsein, einen großen Reichtum zu besitzen, für den Kobold ein schönes, befriedigendes Gefühl.
Doch jetzt, als er das Elend der kleinen Swabedoodahs sah, beschloss er, seinen Steinreichtum mit ihnen zu teilen. Er füllte unzählige Säckchen mit kalten, stacheligen Steinen, packte die Säckchen auf einen großen Handkarren und zog damit nach Swabedoo. Wie froh waren die kleinen Leute, als sie die stacheligen, kalten Steine sahen! Sie nahmen sie dankbar an. Nun hatten sie wieder etwas, was sie sich schenken konnten. Nur: wenn sie einem anderen einen kalten, stacheligen Stein gaben, um ihm zu sagen, dass sie ihn mochten, dann war in ihrer Hand und auch in der Hand desjenigen, der den Stein geschenkt bekam, ein unangenehmes, kaltes Gefühl. Es machte nicht so viel Spaß, kalte, stachelige Steine zu verschenken wie warme, weiche Fellchen. Immer hatte man ein eigenartiges Ziehen im Herzen, wenn man einen stacheligen Stein bekam. Man war sich nicht ganz sicher, was die Schenkenden damit eigentlich meinten. Die Beschenkten blieben oft verwirrt und mit leicht zerstochenen Fingern zurück.

So geschah es, nach und nach, immer häufiger, dass eine kleine Swabedoodah unter ihr Bett kroch, den Beutel mit den warmen, weichen Fellchen hervorzog, sie an der Sonne ein wenig auslüftete, und, wenn jemand ihr einen Stein schenkte, ein warmes, weiches Fellchen dafür zurückgab. Wie leuchteten dann die Augen der Beschenkten! Ja, mancher lief schnell in sein Haus zurück, kramte den Fellbeutel hervor, um auch anstelle des stacheligen Steines ein Fellchen zurückzuschenken. Man warf die Steine nicht fort, oh nein! Es holten auch nicht alle Swabedoodahs ihre Fellbeutelchen hervor. Die grauen, stacheligen Steingedanken hatten sich zu fest in den Köpfen der kleinen Leute eingenistet. Man konnte es aus den Bemerkungen heraushören:
- Weiche Fellchen? Was steckt wohl dahinter?
- Wie kann ich wissen, ob meine Fellchen wirklich erwünscht sind?
- Ich gab ein warmes, weiches Fellchen und was bekam ich dafür? Einen kalten, stacheligen Stein! Das soll mir nicht noch einmal passieren.
- Man weiß nie, woran man ist: heute Fellchen, morgen Steine.

Wahrscheinlich wären wohl alle kleinen Leute von Swabedoo gerne zurückgekehrt zu dem, was bei ihren Großeltern noch ganz natürlich war. Manche sahen auf die Säckchen in einer Ecke ihres Zimmers, angefüllt mit kalten, stacheligen Steinen, auf diese Säckchen, die ganz eckig waren und so schwer, dass man sie nicht mitnehmen konnte. Häufig hatte man nicht einmal einen Stein zum Verschenken bei sich, wenn man einem Freund begegnete. Dann wünschten sich die kleinen Swabedoodahs im Geheimen und ohne es je laut zu sagen, dass jemand kommen möge, um ihnen ein warmes, weiches Fellchen zu schenken. In ihren Träumen stellten sie sich vor, wie sie alle auf der Straße mit einem fröhlichen, lachenden Gesicht herumgingen und sich untereinander Fellchen schenkten, wie in alten Tagen. Wenn sie dann aufwachten, hielt sie aber immer etwas davon zurück, es auch wirklich zu tun. Gewöhnlich lag es daran, dass sie hinausgingen und sahen, wie die Welt „wirklich“ ist!
Das ist der Grund, warum das Verschenken von warmen, weichen Fellchen nur noch selten geschieht, und niemand tut es in aller Öffentlichkeit. Man tut es im Geheimen und ohne darüber zu sprechen. Aber es geschieht – hier und dort, immer wieder. Ob du vielleicht auch eines Tages ...?



Nach dem Vorlesen der Geschichte bekommen alle Anwesenden ein kleines, weiches Fellchen geschenkt.